«Happy Birthday», Eduard Aegerter

Eduard Aegerter war vermutlich der letzte seiner Art. Und zwar jener Art, die man getrost als «Stadtoriginal» bezeichnen darf. Ein Porträt zum 90. Geburtstag, erschienen am 03. März 2003 im Thuner Tagblatt.

«Eduard Aegerter kennen alle», steht im Fotobuch «Bürgerbilder» von Reto Camenisch und Andreas Dietrich geschrieben. Und dort steht über Aegerter auch, dass man zwar nicht viel mehr über ihn wisse, als die Einschätzung, er sei ein Original. Ein Stadtoriginal ist Aegerter eben deshalb, weil viele meinen, dass sie ihn kennen:  «Der Aegerter? War der nicht mal Bademeister in Steffisburg? Oder war er Eismeister auf der ersten Thuner Eisbahn?», versuchen sich einige ältere Zeitgenossen zu erinnern. «Uhh! der Aegerter! Das ist doch der mit dem Puff von altem Plunder an der Hofstettenstrasse.» «Dem musste die Polizei doch seine verwahrlosten Hunde wegnehmen?», so und vor allem so ähnlich schlecht sprechen viele über den heutigen Jubilar von dem manch einer vermutet, dass der doch sicher Millionär sein müsse. Doch wer ist Eduard Aegerter wirklich?
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«Ja, ich bin ein Millionär! Ein Grümpelmillionär…», pflegt Eduard Aegerter mit einem – im langen, grauen Bart verborgenen – verschmitzten Lächeln zu sagen. Millionär in Sachen Geld ist er nicht, und war er nie. Im Gegenteil: «Was ich verdiente, investierte ich. Und davon ist nicht viel übriggeblieben», sagt der passionierte Antiquitätenhändler. Heute reichen sein «Vermögen» und die AHV jedenfalls kaum mehr aus, um den Lebensunterhalt und die Kosten für seine Liegenschaften zu decken. Letztere werden deshalb zurzeit geräumt und sollen verkauft werden (wir berichteten). Dafür ist Eduard Aegerter reich an Erfahrungen und Erinnerungen:

«Ich bin am 3. März 1913 im Glockental, im Haus vom Bäckermeister Zahm auf die Welt gekommen. Ich hatte fünf Brüder und drei Schwestern. Der Vater war damals Schneidermeister und nähte hauptsächlich für die bessergestellten Bauern die halbleinen Kleider. Er hatte einen Knecht – und eines der ersten Telefone in der Gegend. Ich kenne noch die dreistellige Nummer: 786! Und die Mutter hatte eine Haushälterin namens Witschi. Wir sassen also zu dreizehnt am Mittagstisch.»

«In den Krisenjahren musste Vater die Schneiderei aufgeben. Er wurde ‹Söimäster› und Fischhändler. Wir zügelten ins schöne ‹Schwandenbad›. Damit alle Schnäbel der Grossfamilie gestopft werden konnten, mussten wir Buben beim Geldverdienen natürlich tüchtig mithelfen. Wir holten in den Hotels in der Stadt die ‹Söutränki›. Oder wir zogen mit dem Wagen durchs Dorf und riefen: ‹Kauft Fische! Schöne, frische Fische!› Oder wir begossen im Restaurant Schwandenbad für die besser gestellten Leute die Kegelbahn mit Wasser, damit die Kugeln besser rollten, und stellten für sie die Kegel wieder auf. Oder wir sammelten bei der Getreideernte der Bauern liegengebliebenen Körner zusammen. Mutter buck dann am Sonntag davon eine feine ‹Ankezüfpe›». Oder wir suchten die Grube bei der alten Ziegelei nach Wiederverwertbarem ab. So kam ich zu meinem ersten Velo und zu meinen ersten Antiquitäten – schöne Petrollampen, welche die Steffisburger nach der Elektrifizierung wegschmissen.»

Nach der Schulzeit versuchte sich Eduard Aegerter in verschiedenen Branchen. Erst scheiterte sein Traum von der eigenen Champignonzucht an der nicht bewilligten Konzession. Dann missglückte das Unterfangen eines eigenen Sportgeschäfts im Lerchenfeld an der unlauteren Verkäuferin. Die Ware habe er jeden Samstag mit seinem Militärvelo in Bern abgeholt, erzählt Aegerter in seinem Rollstuhl sitzend, und fügt spitz hinzu: «Damals war ich halt noch fit»!  1931 sei er dann in sein erstes eigenens Zimmer am Fischerweg 31 in Thun gezogen. Und 1933 habe er die RS gemacht und dann die Gefreitenschule zum Sanitätskorporal in Basel erfolgreich abgeschlossen. «Zurück in Thun trat ich natürlich dem Sanitätsverein bei, der vom Oberst Baumann geleitet wurde», erinnert sich Aegerter. Und er habe in der Munitionsfabrik (M+F) eine Lehre als Industrielaborant gemacht.

«Hablützel», so habe der Werkstattchef in der M+F geheissen, wo Aegerter nach seiner Lehre weiterarbeitete. Zu dieser Zeit sei dann der 2. Weltkrieg ausgebrochen, sagt Aegerter. «Ich erinnere mich noch genau: Ich war in den Ferien in St. Gallen und bewunderte das grosse Ritterdenkmal unseres 1. Bundespräsidenten, als plötzlich die Glocken Sturm läuteten. Das war die Generalmobilmachung. Und ich musste auf schnellstem Weg zurück in die M+F. Für 45 Rappen Stundenlohn habe ich dort von morgens früh bis abends spät unter Lebensgefahr Munition hergestellt. Weil ich gute Ideen hatte, konnte die Produktion verdoppelt werden. Da erhielt ich dann fünf Rappen mehr Stundenlohn.»

«Lebensbedrohliche Quecksilbervergiftung», so habe die Diagnose von Doktor Ledergerber 1945 gelautet, als es Aegerter gegen Ende des Weltkrieges immer schlechter ging. «Die Vergiftung holte ich mir bei der Arbeit in der M+F. Ich musste die Stelle aufgeben, erhielt eine kleine IV-Rente und beschloss künftig soviel Zeit wie möglich auf dem See zu verbringen. Die frische, feuchte Luft tat mir gut, und der Vergiftung schlecht. Ich konnte dem ehemaligen Besitzer des Schlosses Oberhofen – er war Amerikaner und hiess ‹Misi› – ein grosses Schiff mit zehn Plätzen abkaufen. Von da an war der Eduard Fährimann. Vor dem Ländtehaus erhielt ich einen Pachtplatz, vom Kanton und von der BLS eine Konzession. Viele Jahre war ich mit meinem ‹Mistral› bis weit in die Nacht hinein unterwegs.» Weil er eine IV-Rente bezog und ein anderer Fährmann auftauchte, habe man ihm dann die Konzessionen nicht mehr verlängert, erzählt Aegerter wehmütig.

1951 wurde in Steffisburg die Schwimmbadgenossenschaft gegründet. Der Uhrmacher Bieri sei damals deren Präsident gewesen und habe ihn als ersten Bademeister eingestellt, berichtet Aegerter – und dementiert Gerüchte, wonach der erste Bademeister Steffisburgs gar nicht schwimmen konnte, aufs heftigste: «Ich war ein guter Schwimmer und schwamm das Bassin in einem Tauchgang durch, was selten jemand zustande brachte.» Im Winter betrieb er in der Badi eine Eisbahn. «Um Publikum anzulocken habe ich ein Plakat gemalt. Das habe ich dann im Bahnhof Thun aufgestellt – ohne Erlaubnis. Die Eisbahn fand touristisch so einen grossen Anklang, dass niemand etwas gegen das Plakat im Bahnhof einzuwenden hatte», schmunzelt Aegerter. Später war er dann nicht mehr Bademeister in Steffisbug, dafür Eismeister auf der Thuner Eisbahn bei der Progymatte.

31 Jahre wohnte Eduard Aegerter in seinem Zimmerli am Fischerweg 31. 1962 zügelte er an die Hofstettenstrasse 51, wo er seinen berühmt, berüchtigten Antiquitätenhandel aufzog. Per Velo mit Anhänger habe er sämtliche Haus- und Hotelräumungen von Bern bis Brienz und  noch weiter besucht und «nur die besten Sachen zusammengekauft», kommt Aegerter ins Schwärmen. «Ich bin an all den alten Sachen gehangen und habe deshalb nur verkauft, was nötig war.» Entsprechend überfüllt waren bis vor kurzem auch seine Liegenschaften an der Hofstettenstrasse 51, xx und xx sowie darüber am Hang die Villa «Joliette», welche Bäcker Louis Joly aus Tavers zu Beginn des Jahrhunderts erbauen liess.

Das Chalet an der Hofstettenstrasse 51, war bis vor anderthalb Jahren das Heim von Aegerter. Dort lebte er in sehr bescheidenen Verhältnissen, ohne Warmwasser und ohne Heizung, zwischen Ansichtskarten, Engelsbildern, Zeitungsausschnitten, Briefen, alten Holzladen und, und, und… und früher auch mit über 20 Hunden. Pardon «Hundeli»! «Meine lieben Hundeli, die mich im Winter mit ihrer Wärme einpackten, waren lange Zeit meine Wohngenossen. 1993 wurden sie mir vom damaligen Regierungsrat Benjamin Hofstetter weggenommen. Der Regierungsrat hat mir das Herz gebrochen. Verwahrlost sollten die Hundeli angeblich gewesen sein. Ausgerechnet der Aegerter soll seine lieben Hundeli verwahrlost haben… Meine lieben Hundeli, mit denen ich das Haus und das Essen geteilt habe.»

Von da an ging es mit Eduard Aegerter gesundheitlich immer mehr bergab. Obschon ihn sein Hüftleiden und sein Bandscheibenschaden plagte, legte er zwar noch täglich an Krücken gehend den Weg zwischen dem Wohn- und seinen Geschäftshäusern zurück. Immer öfters musste er aber ins Spital oder zur Kur nach Heiligenschwendi. Seit Oktober 2001 wohnt Eduard Aegerter im Ziegeleizentrum Steffisburg – unweit von seinem geliebtem Schwandenbad…